Zeilenhackend im Zelt. Richtung Sonne, schreibs groß, SONNE, rauscht eine Landstraße, vermutlich die Nationalstraße Saverne-Haguenau. Hinter mir säuselt der Bach namens Moder. La Moder oder le Moder, ich weiß es nicht. Auf meiner Reise auf Radwegen rund ums Paminaland habe ich schon viele Flüsschen und Rinnsäler überquert oder folgte ihnen in ihrem über die Jahrhunderte gegrabenen Tal einige Kilometer. Lasst mich nachdenken: begonnen hat die Reise in Zweibrücken am Schwarzbach (wenn man möchte, kann man sogar noch den Bautzenbach dazu rechnen, an dessen im Sommer versiegenden Gestaden mein Atelier liegt). Dann Hornbach, Schwalbach, rüber zur (ich glaube Bickenalb), Blies, Saar, bei Saar-Union überquerte ich in Thal-Drulingen den Muhlbach und folgte ihm bis Berg. Graufthal liegt glaube ich an der Zinsel. Über den Berg gehts steil ins Tal des Zorn, dem man eine Weile folgt bis Saverne, um sodann über den Radweg 2 wieder zur Zinsel du Sud zu radeln und einige Hügel weiter ist man an der Moder, wo ich nun sitze und mich beim Schreiben vom Bach berauschen lasse.
Die Nacht war eiskalt. Gegen vier Uhr begann ich im dicken Schlafsack, den mir die Liebste geliehen hat, zu frösteln. Trotz Seiden-Inlay. Gestern nachmittag schwankte ich zwischen Zelten und einer Unterkunft suchen. Das Wetter hatte sich gebessert. Am westlichen Horizont konnte man spät doch tatsächlich eine Art Sonne erahnen. In Bouxwiller verpasste ich Künstlerkollege Serge, dessen Atelier ich mir gerne angeschaut hätte und ja, vielleicht hätte er sogar ein Zimmerchen für mich gehabt. Aber es war niemand zu Hause (bewusst habe ich nicht schon viel früher einen Termin ausgemacht, denn auf solchen Radtouren kann man – besser, kann ich – schwer einen Zeitpunkt fixieren. Ich bin schon einen Tag hintendran und wenn ich mit Serge einen Treffpunkt ausgemacht hätte, so wäre es vorgestern gewesen. Den Schlamassel möchte ich niemandem antun: warten auf Godot, den Radler, der behauptet, er käme dann und dann).
Wo war ich stehen geblieben? Bouxwiller, ah ja. Feine Elsassstadt. Fachwerkhäuser. Eng. Per Radweg ab Saverne bestens erreichbar. Ab Dossenheim fährt man oft auf ehemaliger Bahntrasse und die Beschilderung ist, nach anfänglichen Lücken, ab kurz hinter Saverne prima. Der Radweg führt auf der Bahnstrecke an Bouxwiller vorbei. Es lohnt ein Abstecher. Es gibt Läden, Restaurants, Imbisbuden. Vor einem Huit à Huit-Lebensmittelladen stand ein Junge, vielleicht dreizehn vierzehn Jahre alt und sprach mich an, als ich den Laden verließ, ob ich vielleicht fünfzig Cent für ihn habe. Ich sagte ja und kramte im Geldbeutel, fand nur Kupfermünzen und etliche Zwei-Euro Stücke. Er wird wohl schlecht wechseln können, dachte ich, und gab ihm einen Zweier. Da strahlte er, bedankte sich auf Englisch und Deutsch und in allen Sprachen und wünschte mir alles nur erdenklich Beste und lief davon. Vielleicht hatte ich ihm einen frühen Feierabend beschert? Vielleicht muss er zu Hause soundsoviel Euro abliefern? Viellleicht ist seine Bettelei eine Mutprobe und die Freunde lauern um die Ecke. Vielleicht kauft er Zigaretten und Alkohol, vielleicht ist er gar Ausländer und gehört einer jener angeblichen Bettelbanden an. Vielleicht hat er es nicht gut im Leben, vielleicht wünscht er sich was und spart darauf, vielleicht wird er gemobbt ob seiner Armut, die man ihm definitiv ansieht. Vielleicht ist es ein Jux? Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Vielleicht kennt Serge ihn und wüsste mehr? Ich jedenfalls nicht. In der Begegnung mit einem Menschen, flüchtig auf der Straße, nur mal so für kurz, kann man nie wissen, wen man vor sich hat und wes Geistes Kind dieser Mensch ist. Ist er ein Guter oder ein Böser, ein Ekel oder ein Darling. Die verzweigten Wege der Spekulation sind zu Beginn einer Begegnung alle offen und klar, aber recht schnell entscheidet man sich für eine Variante und steckt sein Gegenüber in eine Schublade. Es ist verdammt schwer, es nicht zu tun. Es ist verdammt schwer, neutral zu bleiben. Es ist verdammt schwer, keinen Weg einzuschlagen, so verdammt schwer, sich einzugestehen, dass man etwas einfach nicht weiß und dass alles, was man tut, weil man denkt, man müsse doch irgendeinen Weg einschlagen, mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch ist, und man sich doch besser keine Meinung bilden sollte, man einfach einmal stehen bleiben sollte und mit dem Denken und Spekulieren aufhören sollte. Statt sich in einem Geäst aus Möglichkeiten, mutmaßlichen Wahr- und Unwahrscheinlichkeiten zu verlieren.
Ein paar Dörfer weiter werde vielleicht auch ich Opfer einer Spekulation. Ich habe mich kilometerweit bis zu jenen Fremdenzimmern durchgefragt und erreiche bei Dämmerung endlich das feine Elsässer Häuschen mit dem piken Fachwerk und der hellblauen Tünche und den leuchtenden Fenstern, klingele, eine Frau öffnet das Fenster, beäugt mich, macht eine Bemerkung über meine klobigen Schuhe, sagt, vielleicht sei was frei, sie frage nach, schließt das Fenster und ich kann fühlen, wie drinnen die Menschenbeurteilungsmaschine rattert, schwer, mechanisch, mit hölzernen Zahnrädern. Dann öffnet sich das Fenster wieder und die Frau sagt, die Zimmer seien alle belegt, eine Vierergruppe habe sich eingemietet. Ich könne sicher in Pfaffenhofen etwas finden.
Bitte beachtet, dass auch dies schon eine Spekulation meinerseits ist, dass die Dame mich weggeschickt hat, weil ich ein Radler bin, der mit seinen klobigen Wanderstiefeln womöglich Schmutz ins Haus schleppt. Vielleicht waren tatsächlich alle Zimmer ausgebucht.
Fast sechzig Kilometer unterwegs an Tag drei lacht mich ein Wieschen unweit von Pfaffenhofen an. Ein kleiner, stählerner Steg führt über die Moder, kaum 100 Meter entfernt vom Radweg und da ich müde bin und keine Lust habe auf Zimmersuche in Pfaffenhofen, schlage ich das Europennerzelt erstmals auf dieser Tour auf. Der Aufbau dauerte 40 Minuten. Ich bin aus der Übung.